Fehlendes Bauland, Bürokratie und steigende Kosten drohen die Energiewende auszubremsen.

Von Marcus Theurer

Robert Habeck hatte den Journalisten einen Stapel großformatiger Tafeln voller Kurven und Säulengrafiken mitgebracht, als er vor einem Jahr seine "Eröffnungsbilanz" zum Stand der Energiewende in Deutschland in der Bundespressekonferenz vorstellte. "Megaambitioniert" seien die Pläne der damals noch taufrischen neuen Bundesregierung für den Großumbau der deutschen Energieversorgung, sagte der grüne Wirtschaftsminister. 2030 sollen 80 Prozent des bis dahin deutlich höheren Stromverbrauchs durch erneuerbare Energien gedeckt sein, statt bislang nur etwa die Hälfte, kündigte Habeck an.

Im Januar 2023 ist die Rhetorik der regierenden Ampelkoalition noch immer dieselbe. "Es ist nun für jeden von uns kristallklar, dass die Zukunft allein erneuerbaren Energien gehört", versicherte Bundeskanzler Olaf Scholz diese Woche auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos.

Die Regierung hat aber nicht nur geredet, sondern neben dem kurzfristigen Krisenmanagement in Zeiten knapper Erdgaslieferungen vieles angepackt, um den grünen Großumbau der Stromwirtschaft endlich schneller voranzubringen. Es gab ein "Osterpaket" und ein "Sommerpaket" mit neuen Gesetzen, um den Ausbau von Windkraft und Solarenergie zu beschleunigen. Das Bundesnaturschutzgesetz wurde für die Energiewende reformiert, es gibt jetzt ein neues "Windenergie-auf-See-Gesetz", im Februar folgt das "Windenergie-an-Land-Gesetz". Ein ursprünglich von Habeck für den vergangenen Sommer angekündigtes "Beschleunigungspaket" für die Windkraft wurde dagegen auf dieses Jahr verschoben.

Ein Jahr nach Habecks Eröffnungsbilanz ist es Zeit für eine erste Zwischenbilanz. Die F.A.S. hat diese Woche nachgefragt, bei rund einem Dutzend führender Windkraft- und Solarunternehmen in Deutschland - also bei denjenigen, die nun die benötigten Wind- und Solarparks bauen und betreiben sollen. Sind mithilfe der neuen Gesetze die stark nach oben geschraubten Ausbauziele für die erneuerbaren Energien erreichbar? Schaltet Deutschland jetzt wirklich den Energiewende-Turbo zu?

Der Tenor vieler Antworten ist beunruhigend: Die Energieunternehmen haben ernsthafte Zweifel, ob Deutschland die von der Regierung gesteckten Ziele schaffen wird. "Die Energiewende verliert an Fahrt", warnt Frank May, Chef von Alterric, dem größten Betreiber von Onshore-Windparks in Deutschland. "Unter den aktuellen Rahmenbedingungen erscheint es nicht realistisch, dass die Zielvorgaben erreicht werden", sagt Jürgen Zeschky, Chef des niedersächsischen Windturbinenherstellers Enercon. "Deutschland ist noch nicht auf dem notwendigen Ausbaupfad", mahnt Karsten Brüggemann, Deutschland-Geschäftsführer des Windradbauers Nordex.

Ähnlich klingt auch die Einschätzung des Konkurrenten Siemens Gamesa: Beim Bau von Meeres-Windparks in der Nord- und Ostsee stehe Deutschland vor "industriepolitisch extremen Herausforderungen". Es fehle an Fabriken, Hafenanlagen, Schiffen und Fachkräften, sagt Deutschland-Chef Martin Gerhardt. "Die Gesetzesinitiativen der Bundesregierung gehen in die richtige Richtung, aber sie müssen an vielen Stellen massiv verbessert werden", fordert Udo Möhrstedt, Chef des fränkischen Projektentwicklers IBC Solar und ein Veteran der deutschen Photovoltaikbranche.

Man sei zwar "beeindruckt vom Elan der Bundesregierung" in der Energiewende, heißt es vom weltgrößten Windkrafthersteller Vestas aus Dänemark. Dennoch habe man Zweifel, dass Deutschland seine hochgesteckten Ziele für 2030 bei der Windenergie an Land und auf See erreichen werde.

Lob für Habeck gibt es auch von anderen Unternehmen: "Der Wille zum Abbau bestehender Hemmnisse ist erkennbar", sagt Stefan Dohler, der den Energieversorger EWE aus Oldenburg leitet. Und der Essener Energiekonzern RWE findet es ausdrücklich gut, dass Habeck trotz der vielen Hemmnisse hohe Ziele für den Bau von Windparks auf See gesetzt habe. Das Unternehmen ist der mit Abstand größte deutsche Stromerzeuger und hat Ende 2022 vor Helgoland seinen neuen MeeresWindpark Kaskasi in Betrieb genommen. 2021 war dagegen in deutschen Gewässern kein einziger neuer Windpark fertig geworden.

Nach den Plänen von Habeck soll die Industrie bis zum Ende des Jahrzehnts einen gewaltigen Kraftakt schaffen (siehe Grafik). Bei der Windkraft an Land soll die Gesamtleistung aller Windturbinen bis 2030 verdoppelt werden. Rechnerisch müssten dafür bis zum Ende des Jahrzehnts jeden Tag 5,8 neue Windräder in Deutschland gebaut werden, kalkulierte kürzlich das Energiewirtschaftliche Institut der Universität Köln (EWI). In der Offshore-Windkraft und der Photovoltaik soll die Gesamtleistung bis 2030 sogar jeweils weit mehr als verdreifacht werden.

Doch den Ökostrom-Unternehmen machen noch immer drei gravierende Probleme zu schaffen: ein Mangel an Bauflächen, lange Genehmigungsverfahren und Finanzierungsproble- me durch den Anstieg von Materialkosten und Zinsen. So rechnet der Energiekonzern Vattenfall mit "massiven Preiserhöhungen" für Windturbinen, Fundamente und Kabel. Aktuell arbeiten praktisch alle europäischen Hersteller von Windkraftanlagen mit operativen Verlusten. Ohne Gewinne fehlt den siechen Unternehmen womöglich das Kapital für die dringend notwendige Ausweitung der Produktionskapazitäten.

Der Mangel an Bauland, auf dem Windräder und Solarparks gebaut werden dürfen, macht den Unternehmen schon lange zu schaffen. In Bayern, dem flächenmäßig größten Bundesland, seien 2022 nur ganze 14 neue Windräder ans Netz gegangen, rechnet der dänische Branchenriese Orsted vor. Im grün regierten Baden-Württemberg ist die Bilanz kaum besser.

In Zukunft sollen nun zwar alle Bundesländer 2 Prozent der Landesfläche als Bauland für Windräder ausweisen, statt bislang im Schnitt nur 0,8 Prozent. Doch die von der Bundesregierung verordnete Ausweitung muss erst bis 2032 erfolgen. Viel zu spät, sagt EWE-Chef Dohler: Wenn die Windkraft-Ausbauziele erreicht werden sollen, müsse die 2-Prozent-Vorgabe schon 2025 eingehalten werden. Andere Unternehmen sehen das genauso.

Als ungelöst gilt in der Branche auch das Bürokratieproblem - trotz Habecks Beschleunigungsgesetzen. "Furchtbar" seien noch immer die zähen Planungs- und Genehmigungsverfahren in Deutschland, beklagt Udo Möhrstedt von IBC Solar. Fast 2300 geplante Windkraftanlagen stecken hierzulande im Genehmigungs-Stau fest. Sieben Jahre vergingen von der Projektentwicklung bis zur Inbetriebnahme einer Windkraftanlage, berichtet Michael Class, Leiter Portfolioentwicklung beim baden-württembergischen Energiekonzern ENBW: "Das ist einfach viel zu lang." Dass es auch in dicht besiedelten Ländern schneller gehen kann, das machten zum Beispiel die Niederlande vor, sagen die Energiemanager.

Die Bemühungen der Regierung in Berlin, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen, seien ja richtig und wichtig. "Aber in der Praxis sind die Beschleunigungen bisher kaum spürbar", berichtet EWE-Chef Dohler. Es werde jetzt entscheidend sein, dass die Länder die Vorgaben des Bundes "zügig umsetzen", warnen die Unternehmen, "Bundesländer und Kommunen sind gefordert", sagt Nordex-Manager Brüggemann.

Denn konkret entschieden wird über die Tausende von Ökostrom-Bauprojekten eben nicht in Berlin am Kabinettstisch, sondern draußen im Land. In den Amtsstuben der Genehmigungsbehörden fehlen jedoch viele Tausend Mitarbeiter. Das ist vielleicht Habecks größtes Problem: Im Alleingang und ohne dass Länder und Kommunen mitziehen, wird der Energieminister mit seiner Ausbauoffensive ganz bestimmt scheitern.

Sechs Windkraftanlagen am Tag muss Deutschland in den kommenden Jahren errichten, um sein Ausbauziel zu erreichen. Foto Paul Langrock/Laif

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.01.2023, Nr. 3, S. 21