Das Wetter in der Schweiz ist wie die Sicherheit in Afghanistan." Unsicher lacht Abdullah Ali über seinen Scherz. Der 23 Jahre alte Afghane wohnt seit vier Jahren in der Schweiz, in Ottikon, einem kleinen Dorf der Gemeinde Gossau. In seiner Heimat konnte er wegen dem Krieg, der dort seit vierzig Jahren wütet, nicht bleiben. Hier in Ottikon fühlt sich Abdullah in seiner Dreizimmerwohnung, die er mit seinem Freund Mohammad teilt, wohl. "Abgesehen von meiner Familie, vermisse ich Afghanistan nicht", erklärt er, und seine dunkelbraunen Augen sehen für einen kurzen Moment ziemlich traurig aus. Sein recht großes Zimmer ist gerade mit dem Nötigsten ausgestattet: einem Schreibtisch, einem eintürigen Schrank und einem 90-Zentimeter-Bett, über dem eine Schweizer Landkarte hängt. Während sein Mitbewohner unter der Woche einen Sprachkurs besucht, verbringt Abdullah seinen Tag in der Gärtnerei Stehli in Gossau. "Ich stehe jeden Morgen, um halb sechs Uhr ohne Wecker auf. Eine Viertelstunde später fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit."

Angefangen hat er bei der Stehli AG vor einem Jahr als Praktikant, als die Gemeinde auf seinen Wunsch hin eine Arbeit suchte. Nach zwei Monaten hat Abdullahs Chef ihm vorgeschlagen, ihn mit einer Stundenbezahlung von 22 Franken anzustellen. Das Ziel des schwarzhaarigen Flüchtlings ist es, eine Ausbildung zu machen, ob bei Stehli oder nicht, ist ihm egal. Am liebsten als Plattenleger, Maurer oder Gärtner. Als Plattenleger hat er zehn Jahre Berufserfahrung. Denn nach nur drei Jahren Unterricht konnte Abdullah nicht mehr zur Schule gehen. Die Gefahr, dass die Terrorgruppen der Taliban oder des IS auch seine Schule zerstören und Abdullah töten könnten, war zu groß. Noch heute wüten die Terrormilizen in Afghanistan, und der Frieden ist immer noch ungreifbar.

Deshalb begann Abdullah mit acht Jahren bei seinem Vater als Plattenleger zu arbeiten. Damit finanzierte er sich auch seine zwanzigtägige Flucht in die Schweiz. Seine Eltern, seine zwei Brüder und seine Schwester musste er zurücklassen, da das Geld nur für ihn allein reichte, und dies obwohl seine Familie ein gutes Durchschnittseinkommen hatte. Natürlich denkt Abdullah oft an sie, und manchmal können sie miteinander telefonieren. Leider aber nur unregelmäßig, da ein Telefonat teuer ist mit einem Prepaidhandy. Ein Abonnement darf Abdullah wegen seines F-Ausweises nicht abschließen. Den F-Ausweis erhalten Migranten, die keine Aufenthaltsbewilligung bekommen, aber aus rechtlichen Gründen nicht ausgeschafft werden können. Er ist nur ein Jahr gültig. Somit kann Abdullah jederzeit abgeschoben werden, sobald Afghanistan wieder als "sicheres Land" eingestuft wird.

Mit umgerechnet 7000 Franken ist Abdullah mit 19 Jahren zu Fuß oder mit dem Taxi in die Türkei geflüchtet, danach mit dem Boot bis nach Griechenland. "Wir waren 30 Leute auf einem kleinen Boot, und ich hatte große Angst, dass wir untergehen würden. Doch ich hatte Glück. Der Fahrer muss das Bootfahren irgendwo gelernt haben, denn er brachte uns in nur 45 Minuten nach Griechenland. Trotzdem mussten wir ständig mit Schüsseln das Wasser aus dem Boot schöpfen, damit wir nicht untergehen." Zu seinem Entsetzen musste Abdullah in Griechenland und später, nach langer Zug- und Busfahrt, auch in Österreich und Deutschland seinen Fingerabdruck hinterlassen. Dies machte ihm oft Angst, da er nicht in eines dieser Länder abgeschoben werden will. In Deutschland wurde er in eine Asylunterkunft gebracht. "Dort wollte ich nicht bleiben. Also habe ich zweimal versucht, auszubrechen. Beim zweiten Mal bin ich dann in die Schweiz geflüchtet."

In der Schweiz angekommen, wurde Abdullah erstmals für ein Jahr in Gossau in einer Männer-Asylunterkunft untergebracht, in einem schmutzigen Einzelzimmer. Dort hat er ein paar nette Männer kennengelernt, die seine Freunde wurden. Mit ihnen geht er an Wochenenden oft nach Zürich zum Spazieren oder zum Wandern. Nach der Arbeit geht Abdullah gern Fahrrad fahren, joggen oder schaut zu Hause YouTube-Videos. Manchmal sitzt er einfach auf der alten Couch und denkt nach, bevor er dann gegen Mitternacht schlafen geht.

Vom Staat erhält Abdullah lediglich 480 Franken, da er ein eigenes Einkommen hat. Leider lässt sich damit kein Deutschkurs finanzieren, da Abendkurse viel teurer sind als Tageskurse. Deswegen fehlen ihm ausreichende Deutschkenntnisse, um eine Ausbildung zu beginnen, obwohl er schon ziemlich gut Deutsch spricht und versteht. Auch im Alltag, bei der Arbeit, hat Abdullah keine Chance, sein Deutsch zu verbessern, da er fast ausschließlich mit Portugiesen zusammenarbeitet, die sich nur in ihrer Landessprache unterhalten. Trotz aller Schwierigkeiten will Abdullah in der Schweiz bleiben, denn es gefällt ihm hier gut, und er ist zufrieden mit seinem Leben hier. Er erhofft sich aber, dass seine Familie eines Tages in die Schweiz kommen kann, er selbst Deutsch lernen, dann die Fahrprüfung sowie eine Ausbildung machen kann.

Hannah Keuwel, Kantonsschule Zürcher Oberland, Wetzikon
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.02.2020, Nr. 28, S. 26