Die Korruptionsvorwürfe gegen den einstigen hessischen Vorzeigejuristen Oberstaatsanwalt Alexander B. erschütterten die Justiz. Doch auch anderthalb Jahre nach Beginn der Ermittlungen gibt es noch keine Anklage. Stattdessen weitet sich die Affäre aus: Ein weiterer Staatsanwalt wurde suspendiert, und es gibt Vorwürfe gegen das Landeskriminalamt.
Von Julian Staib, Wiesbaden
Alexander B. war kein gewöhnlicher Staatsanwalt. Das wurde schon in seinem Amtszimmer deutlich: Dort standen seine eigenen Designermöbel. B. soll zudem eine eigene Putzkraft angeheuert haben, die sein Büro reinigte. Im Auftreten war der Oberstaatsanwalt über jeden Zweifel erhaben, gewissermaßen die Verkörperung des staatlichen Strafanspruchs. Gegenüber Journalisten wurde er gerne grundsätzlich, oft auch belehrend. Der Frankfurter Topjurist war Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft, zudem leitete er eine bundesweit einzigartige Zentralstelle für Medizinstrafsachen. B. war damit oberster Korruptionsbekämpfer des Landes im Gesundheitswesen, reiste durch die Republik, hielt Vorträge, gab Interviews, etwa zum "Tatort Gesundheitsmarkt".
Im Juli 2020 wurde B. festgenommen. Über viele Jahre soll er mehrere Hunderttausend Euro für die Vergabe von Gutachten kassiert haben. B. war bestens vernetzt, die Ermittlungen gegen ihn führte eine kleine Truppe von Landeskriminalamt (LKA) und Staatsanwaltschaft Frankfurt unter absoluter Geheimhaltung. Festgenommen wurde er bei der Arbeit, im Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft. Die wurde einst von Fritz Bauer geleitet, Alexander B. war als Sprecher ihr Gesicht. Der Skandal traf Hessens Justiz somit ins Mark. Die Erschütterungen sind bis heute zu spüren.
Nach anderthalb Jahren Ermittlungen stellte die Staatsanwaltschaft Frankfurt für Ende 2021 eine Anklageerhebung in Aussicht. Doch dazu kam es nicht. Stattdessen wurde kurz vor Weihnachten bekannt, dass auch gegen den Staatsanwalt Christian H. ermittelt wird, einen der engsten Kollegen B.s. Ihm wird Beihilfe zur Untreue im Amt vorgeworfen, er wurde suspendiert. Seitdem stellt sich die Frage, ob es in der Generalstaatsanwaltschaft ein "System B." gab. Immer fraglicher wird zudem, warum B. so lange ungestört agieren konnte. Schließlich gab es innerhalb der hessischen Ermittlungsbehörden schon früh Hinweise auf fragwürdiges Verhalten.
2001 kam B. als junger Staatsanwalt in der sogenannten Eingreifreserve der Generalstaatsanwaltschaft nach Limburg. Dort waren Hunderte Fälle möglichen Betrugs von medizinischen Abrechnungen aufzuklären, die kleine örtliche Staatsanwaltschaft war heillos überfordert. Also wurde der junge Staatsanwalt zur Unterstützung entsandt. Beteiligte beschreiben ihn als ehrgeizigen und eloquenten, damals aber noch aufgeschlossenen und freundlichen Mann, meist in Rollkragenpullover und Cordhose. Erst später tauschte er diese demnach gegen einen Dreiteiler ein, wurde unnahbarer.
Für die Ermittlungen gab es vor Ort eine Arbeitsgruppe zusammen mit dem LKA. B. soll schon damals Arzthelferinnen und Laborkräfte hinzugezogen haben, um auf Honorarbasis die Abrechnungen aufzudröseln, um die es ging. Mit dem damaligen Abteilungsleiter im LKA soll es über B.s Vergabepraxis zum Streit gekommen sein. Die Arbeitsgruppe wurde eingestellt. Von dem Vorgang berichten mehrere Gesprächspartner. Das LKA will dazu nichts sagen und verweist an die Staatsanwaltschaft. Von der heißt es nur, die Zusammenarbeit sei im November 2007 beendet worden. Da die entsprechende Entscheidung mehr als 15 Jahre zurückliege und sich die Staatsanwaltschaft nicht an öffentlichen Spekulationen beteilige, könnten zu den Gründen für diese Entscheidung keine Auskünfte erteilt werden. Doch wirft der Vorgang die Frage auf, warum man B. danach weiter unbehelligt ließ.
Denn B., der innerhalb der Generalstaatsanwaltschaft rasch aufstieg, soll aus der Vergabe mindestens ab 2007 ein System gemacht haben. Die Kassenärztliche Vereinigung muss bei auffälligen Abrechnungen Mitteilung an die Staatsanwaltschaft machen. B. ließ dann für die Ermittlungen gegen Ärzte, Apotheker und Kliniken Gutachten erstellen. Hauptsächlich von einem Unternehmen, das offenbar auf sein Betreiben hin 2005 gegründet worden war und gegen dessen Geschäftsführer nun auch ermittelt wird. Gelder soll er selbst von dem Firmenkonto mit einer Bankkarte abgehoben haben, später sollen sie ihm bar zugesteckt worden sein. B. betrieb also gewissermaßen eine "Public-Private-Partnership". Bis zu seiner Verhaftung soll er mehrere Hunderttausend Euro kassiert haben.
Für die Unternehmen sollen vor allem frühere Arzthelferinnen tätig gewesen sein. Es habe sich um Autodidakten gehandelt, die auf Sachverständige getrimmt worden seien, sagt Strafverteidiger Alexander Dorn, der in vielen Fällen mit B. zu tun hatte. "Die Gutachten waren das Geld nicht wert", sagt Dorn. Es seien Arbeitsstunden aufgeschrieben worden, "so langsam kann man gar nicht arbeiten". Aus den Rechnungen, von denen einige der F.A.Z. vorliegen, geht nicht hervor, welche Leistungen erbracht wurden. Meist ist nur die Stundenzahl angegeben. B. stempelte sie als "sachlich richtig" und unterschrieb, beziehungsweise setzte er eine Art Haken als Unterschrift darunter.
Die Praxis kam nun in einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Frankfurt von Anfang November zur Sprache. Dabei ging es um ein Verfahren, in dem sich ein Arzt wegen falscher Abrechnungen verantworten musste. In dem Urteil heißt es, der zuständige Oberstaatsanwalt - gemeint ist offenbar B. - habe von dem Gutachterunternehmen "zur Übersichtlichkeit des Kostenbandes" keine Einzelnachweise der Rechnungen verlangt - das sei "grob rechtswidrig".
Die Höhe der Kosten für die Gutachten war horrend. Rechtsanwalt Dorn schildert einen Fall, in dem es zu Gutachterkosten in Höhe von fast 500 000 Euro gekommen sei, bei einem angeblichen Betrugsschaden von maximal 70 000 Euro. Zu einem Prozess aber kam es nur selten. Das sei "Methode" gewesen, B. habe nicht gewollt, dass die Gutachterinnen vor Gericht aufträten, sagen mehrere Gesprächspartner. B. soll für eine Einstellung der Verfahren meist gegen Zahlung eines Betrags an die Staatskasse gesorgt haben. Den Beschuldigten soll er mit Beschlagnahmung, ja sogar mit Einsätzen des SEK gedroht haben. Die beschuldigten Ärzte stimmten einer Zahlung meist zu, auch aus Sorge vor einem Ansehensverlust.
In der Generalstaatsanwaltschaft gab es bei der Vergabe von Gutachten kein Vier-Augen-Prinzip. Doch hätte die einseitige Vergabe über so viele Jahre eigentlich trotzdem irgendwann auffallen müssen. Im Team von B. gab es viele wechselnde Staatsanwälte. Zu dem Fall, bei dem fast 500 000 Euro Kosten für Gutachten entstanden, sagte Hessens Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) im November im Rechtsausschuss: Die Auftragsvergabe habe in dem Fall nicht auffallen können, weil die Gesamtsumme in "80 Teilrechnungen" geltend gemacht wurde. Der Beschuldigte sei "mit hoher krimineller Energie" vorgegangen, aus diesem Grund seien die Taten nur schwer zu entdecken gewesen.
Vielleicht wollte aber auch niemand genau hinschauen. Der Fall sei nur möglich gewesen, "weil die Leitung der Staatsanwaltschaft und das für die Rechtsaufsicht zuständige Justizministerium es offenbar für höchst erfreulich und lobenswert gehalten haben, auch mithilfe derartiger 'Gutachten' kombiniert mit der Praxis der massenhaften Einstellung der Verfahren Geld in Millionenhöhe in den Justizhaushalt zu spülen", sagt Rechtsanwalt Michael Hofferbert. Er hatte einst mehrere Mandanten vertreten, gegen die B. vorgegangen war. "Es wird so getan, als ob es nur der eine Bösewicht war. Das eigentliche Problem aber war die Gier beim Justizministerium", sagt Hofferbert. Die mögliche Untreue sei für die Staatskasse sicherlich lukrativ gewesen, das habe wohl gerechtfertigt, den Erfinder dieser Geldmaschine unverzüglich zu befördern und auf jedwede Aufsicht zu verzichten.
Hofferbert wirft den Beteiligten vor, "blind vor Gier" gewesen zu sein. Letztlich hätten "alle die Hand aufgehalten". Er spricht von einer "Geldmaschine", an der auch mancher Verteidiger mitkassiert habe. Ein anderer Verteidiger spricht von einem "Hofstaat willfähriger Anwälte", denen B. stets eine gute Lösung angeboten habe unter der Voraussetzung, dass sie die Gutachten nicht angriffen. Eine Ermittlerin spricht von einer "Win-win-Situation", die vermutlich dazu geführt habe, dass niemand so genau hinschaute. B. sei als Held gefeiert worden, der rasch komplizierte Verfahren losgeworden sei und viel Geld eingebracht habe.
Wie viel Geld das in die Staatskasse gespült hat, ist unklar. Dazu könne man keine Auskunft geben, sagt ein Sprecher des Justizministeriums. Auch der Generalstaatsanwaltschaft liege die Zahl nicht vor, so der Sprecher, sie könne "nur mit relativ hohem Aufwand ermittelt werden". Eindeutig aber ging das System zulasten der betrogenen Patienten und der Krankenkassen. Denn Ausgangspunkt waren ja meist falsche Abrechnungen durch Ärzte oder Labore gewesen.
Eine Anklage in dem Fall wurde von der Staatsanwaltschaft eigentlich für Ende 2021 in Aussicht gestellt. Doch Ende November hieß es vonseiten der Staatsanwaltschaft, es hätten sich weitere Ermittlungsansätze in "ganz erheblichem Umfang" ergeben, es gebe den Verdacht auf "weitere erhebliche Straftaten". Kurz vor Weihnachten wurde dann bekannt, dass einem Mitarbeiter von B. Beihilfe zur Untreue vorgeworfen wird. Ob es weitere Beschuldigte in der Justiz gibt, ist ungewiss. B. hat nach Angaben der Staatsanwaltschaft die Zuwendungen eingestanden. Doch sorgt in Justizkreisen für Unruhe, dass er bereits nach rund zwei Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Gefragt wird, ob angesichts eines weiteren nun beschuldigten Staatsanwalts wirklich keine Verdunklungsgefahr bestanden habe. Das Justizministerium will dazu nichts sagen und verweist auf die Staatsanwaltschaft. Die gibt nur zurückhaltend Auskunft. Auf die Frage, inwiefern die Ermittlungen ausgeweitet worden seien, heißt es etwa, die Ermittlungen erstreckten sich "auf alle in Betracht kommenden Straftatbestände".
Innerhalb der Opposition im Hessischen Landtag sorgt für scharfe Kritik, dass immer noch keine Anklage erhoben und stattdessen die Suspendierung eines weiteren Staatsanwalts bekannt wurde. Im Fokus steht dabei Hessens Justizministerin Kühne-Hörmann. Deren Darstellung, bei B. habe es sich gewissermaßen um einen durchtriebenen Einzeltäter gehandelt, sei durch die Suspendierung eines weiteren Staatsanwalts hinfällig geworden, sagt die rechtspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion im Landtag, Marion Schardt-Sauer. Die Frage sei, wie viele Mitarbeiter involviert gewesen seien. "Die Justizministerin muss endlich aufklären, sie trägt die Verantwortung für den Fall." Auch der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Gerald Kummer, sagt, der Fall sei "Chefsache", die Staatsanwaltschaft sei gegenüber der Justizministerin schließlich weisungsgebunden. Kühne-Hörmann müsse endlich beziffern, welcher Schaden dem Land Hessen entstanden sei. Zudem müsse sie klarmachen, wie künftig Korruption in dem Bereich verhindert werden könne.