Gabriele Britz, Richterin des

Bundesverfassungsgerichts, spricht über den wichtigen Klimabeschluss, ein Tempolimit und Zwänge der Politik.

Klimaschützer haben nach dem Klimabeschluss von 2021, der als bahnbrechend bewertet wurde, mehrere Niederlagen in Karlsruhe erlebt. Zuletzt scheiterte eine Verfassungsbeschwerde, mit der ein bundesweites Tempolimit erzwungen werden sollte, bereits in einer Kammer des Gerichts. Ist Karlsruhe beim Klimaschutz wieder zurückgerudert?

Nein, gar nicht. 2022 kamen noch zwei Entscheidungen des ganzen Senats zu Windenergieanlagen. Wenn Sie in Sieg und Niederlage einteilen, können Sie beide Beschlüsse als Sieg für den Klimaschutz verbuchen. Die verfassungsrechtlichen Klimaschutzverpflichtungen gelten ja unverändert. Ganz gerafft bedeutet das: Die Politik muss erstens auf Treibhausgasneutralität hinarbeiten, und zwar auch international. Dazu ist sie nach dem Klimaschutzgebot des Grundgesetzes verpflichtet. Der zweite Pflock sind die Grundrechte als staatliche Schutzpflichten: Um die Bürger vor den gefährlichen Folgen des Klimawandels zu bewahren, muss die Politik den Ausstoß von Treibhausgasen begrenzen und außerdem Maßnahmen zur Anpassung an die unvermeidbaren Folgen des Klimawandels ergreifen. Und drittens muss der Gesetzgeber für einen schonenden Übergang zur Klimaneutralität sorgen, damit es nicht zu einer Freiheits-Vollbremsung kommt.

Ähnlich war aber doch die Argumentation im Tempolimit-Fall: Wir brauchen sofort eine Geschwindigkeitsbegrenzung, um deutlich drastischere Freiheitseinschränkungen zu verhindern.

Ja, es wurde argumentiert, ein Tempolimit sei jetzt schnell erforderlich, um im Verkehrssektor eine buchstäbliche Vollbremsung am Ende unseres Jahrzehnts zu verhindern, wenn dann schlagartig die im Klimaschutzgesetz bis 2030 vorgegebene CO2-Reduktion erfüllt werden muss. Die Verfassungsbeschwerde war aber nicht ausreichend begründet. Das Bundesverfassungsgericht stellt dafür gewisse Mindestanforderungen. Da gilt beim Klimaschutz keine Ausnahme. Hier fehlten sowohl auf der tatsächlichen Ebene als auch rechtlich genauere Ausführungen, warum es zwingend ein Tempolimit braucht, um die verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Klimaschutz insgesamt einzuhalten.

Der Tempolimit-Beschluss relativiert also nicht die Karlsruher Anforderungen an die Klimaschutzpolitik, wie zuweilen behauptet wird?

Nein, warum auch? Am Klimaschutzgebot und auch an der Freiheitsproblematik von Klimaschutz hat sich ja nichts geändert. Freiheitsgebrauch setzt Energie voraus, andererseits funktioniert Energienutzung bislang aber eben weitgehend nur mit CO2-Emissionen. Solange Energienutzung in hohem Maße fossil ist, ist die Möglichkeit, Treibhausgase emittieren zu dürfen, schiere Bedingung von Freiheit. Weil aber die Erderwärmung nicht unbegrenzt immer weitergehen kann und rechtlich gesehen bei deutlich unter 2 Grad, möglichst bei 1,5 Grad angehalten werden muss, muss die fossile Energienutzung irgendwann enden oder jedenfalls CO2-neutral werden. So gesehen gibt es nur noch ein CO2-Restbudget. Verfassungsrechtlich folgt daraus eine Pflicht der Politik, Freiheit und auch eine gewisse Verteilung von Freiheit sicherzustellen.

Aber was macht den Klimaschutz so besonders, dass nicht nur, wie sonst üblich, gegenwärtige Freiheitseinbußen zu berücksichtigen sind, sondern auch künftige? Begrenzte Budgets und Versuchungen, unbequeme Entscheidungen zulasten künftiger Generationen zu verschieben, sind doch in der Politik allgegenwärtig.

Wir haben es beim Klimawandel mit extrem lang anhaltenden Effekten zu tun, und das CO2-Restbudget ist auch noch mal etwas anderes als ein Geldbudget. Der Treibhauseffekt von CO2-Emissionen ist nach heutigem Stand in wesentlichen Teilen unumkehrbar. Was heute von dem CO2-Restbudget aufgezehrt wird, steht also morgen nicht mehr für energiebedürftige Freiheitsausübung zur Verfügung. Solange die benötigte Energie fossil ist, geht dann Freiheit verloren, weil CO2-relevanter Freiheitsgebrauch immer mehr eingeschränkt werden muss, je wärmer die Erde wird. Dieser Zusammenhang von heutigem Verbrauch und künftigen Freiheitsbeschränkungen, der ist beim Klimawandel schon sehr speziell. Deswegen muss die Politik schon heute Vorsorge zur Schonung künftiger Freiheit treffen.

Das klingt recht abstrakt. Was konkret muss die Politik tun?

Sie ist gefordert, den Übergang zur Klimaneutralität früh genug einzuleiten, damit noch Zeit bleibt, insbesondere noch mehr klimaneutrale Technik zu entwickeln. Die Politik muss rechtzeitig ein möglichst hohes Maß an Freiheit auch unter klimaneutralen Bedingungen sichern, sodass es nicht zu dieser befürchteten Freiheits-Vollbremsung kommt. Ob die Politik dem gerecht wird, lässt sich schwer an punktuellem Tun oder Unterlassen ablesen, weil es darum geht, vorausschauend für die insgesamt erforderlichen CO2-Minderungen zu sorgen. Übrigens sollte man nicht übersehen, dass sonst auch die Spielräume für demokratische Entscheidungen immer enger würden. Je heißer es auf der Erde wird, desto weniger Alternativen gibt es zu einer Dekarbonisierung, die dann irgendwann sehr radikale Entscheidungen erfordert.

Um dieses Szenario zu vermeiden, verlangt das Bundesverfassungsgericht, der Klimaschutz müsse in Konfliktsituationen umso mehr Gewicht bekommen, je schlimmer es mit der Erderwärmung wird. Nur: Wie soll das für Behörden und Gerichte funktionieren, etwa bei der Ausweisung eines neuen Baugebietes?

Abwägungsentscheidungen sind für Behörden Alltagsgeschäft. Dazu gehört auch, die Klimaauswirkungen eines Vorhabens zu beurteilen. Die Behörde hat dafür Prognosen über die Treibhausgasbilanz des geplanten Vorhabens anzustellen. Kommt es zu Klagen, überprüfen die Gerichte auch, ob die Prognosen zu den Klimaauswirkungen nachvollziehbar sind.

Wann ist die Schwelle erreicht, dass ein Vorhaben, etwa der Ausbau einer Straße, mit Rücksicht auf den Klimaschutz gekippt werden muss?

Hier liegt in der Tat eine Schwierigkeit. Solange das Restbudget noch nicht aufgebraucht ist, gibt es verfassungsrechtlich gesehen erst einmal keinen direkten Zwang, Projekte komplett zu verbieten, weil sie zu einem erhöhten CO2-Ausstoß führen. Sollte allerdings weiterhin jedes einzelne CO2-steigernde Vorhaben zugelassen werden, haben wir auch wieder ein Problem. Man kann aber jedenfalls nicht argumentieren, für den globalen Klimawandel sei diese einzelne Straßenerweiterung doch praktisch bedeutungslos. Dass diese Art von Einwand nicht durchgreift, hat das Bundesverfassungsgericht im Klimabeschluss und einem der folgenden Windenergie-Beschlüsse ausführlich dargelegt. Die Frage, welche Vorhaben dann mit Rücksicht auf den Klimaschutz noch möglich sind und welche nicht, lässt sich aber in der Tat auf der Einzelfallebene nicht so einfach beantworten. Bei der Lösung ist da jetzt auch das Verwaltungsrecht gefordert.

Sind mehr Verbote nötig, um dem Klimaschutzgebot gerecht zu werden?

Die Gesetzgeber in Bund und Ländern müssen jedenfalls handeln, um die verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Klimaschutz zu erfüllen. Und das tun sie ja auch. Sehr konkrete Regelungen sind die Minderungsziele für die verschiedenen Sektoren im Bundes-Klimaschutzgesetz. Weltweit gesehen, ist das Klimaschutzgesetz überhaupt ein bemerkenswertes Gesetz. Aber die Regelungen vollziehen sich nicht von allein. Damit die Minderungsziele eingehalten werden, kommen natürlich auch Verbote in Betracht. Aber wie sonst auch müssen auch Verbote zugunsten des Klimaschutzes verhältnismäßig sein.

Für den Ausbau der erneuerbaren Energien hat der Gesetzgeber festgelegt, dass sie im überragenden öffentlichen Interesse liegen. Hilft das bei den schwierigen Abwägungsentscheidungen?

Ich denke, dass sich solche Vorrangregelungen bei Projekten, die dem Ausbau erneuerbarer Energien dienen, relativ gut umsetzen lassen. Ein absoluter Vorrang vor gegenläufigen Interessen wie dem Natur- und Artenschutz, wenn man an Windräder denkt, oder gegenüber dem Denkmalschutz, wenn es um Solaranlagen auf Häusern geht, ist damit zwar nicht festgelegt. Aber die Verwaltung hat einen klaren Anhaltspunkt, dass schon sehr starke Argumente gegen die Projekte sprechen müssten, um sie nicht zu genehmigen.

Klimaschützer versuchen derzeit, Unternehmen mit Zivilklagen zu einer schnelleren Transformation zu zwingen. Welche Bedeutung hat die Karlsruher Klimarechtsprechung für diese Verfahren? Auch die Zivilgerichte müssen ja das Verfassungsrecht in der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigen.

Ja, das gilt natürlich immer. Und die Wirtschaft ist für die Bewältigung des Klimawandels in der Tat eine zentrale Größe, weil viele Bereiche sehr energieintensiv arbeiten. Gleichzeitig sind die Unternehmen nicht wegzudenken als Akteure für die Entwicklung der freiheitssichernden Techniken, die auf dem Weg in die Klimaneutralität benötigt werden. Ein Ergebnis des Klimabeschlusses ist deshalb ja gerade, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, für frühzeitige und transparente Maßgaben zur weiteren Ausgestaltung der Treibhausgasreduktion zu sorgen, um rechtzeitig die nötigen Entwicklungsprozesse auszulösen. Was nun die Unternehmensklagen angeht, darf und will ich nichts Näheres dazu sagen. Kann gut sein, dass die Verfahren eines Tages vor dem Bundesverfassungsgericht landen. Und das Gebot richterlicher Zurückhaltung gilt für Mitglieder des Gerichts auch am Ende ihrer Amtszeit.

Die Fragen stellte Katja Gelinsky.

Kastentext:

Zur Person

Gabriele Britz ist Richterin des Bundesverfassungsgerichts und dort Mitglied des Ersten Senats.  Die Hochschulprofessorin war 2011 im Bundesrat auf Vorschlag der SPD zur Verfassungsrichterin gewählt worden. Britz ist unter anderem zuständig für das öffentliche Umweltrecht.  Die  bekannteste Entscheidung aus jüngerer Zeit, die sie als Berichterstatterin vorbereitete, ist neben Urteilen zum Verfassungsschutz und jüngst zur Datenanalyse der Klimabeschluss von Frühjahr 2021. Britz' Amtszeit endete nach 12 Jahren offiziell am 2.  Februar.  Sobald ihr Amt neu besetzt ist, kehrt sie zurück auf ihre Professur für Öffentliches Recht und Europarecht an der Justus-Liebig-Universität in Gießen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.02.2023, Nr. 42, S. 20