Das Rennen um die karbonfreie Produktion der Zukunft hat begonnen. Gleichzeitig stockt der Ausbau erneuerbarer Energien.

Von Dirk Mewis

Kein CO2-Ausstoß mehr und Weltspitze bei den Umwelttechnologien: Der "European Green Deal" soll nicht nur entfernt an den legendären "New Deal" erinnern, mit dem US-Präsident Franklin D. Roosevelt einst nach der Weltwirtschaftskrise die amerikanische Wirtschaft revolutionierte. Die historische Dimension des EU-Programms ist ähnlich. Denn der European Green Deal bedeutet eine völlige Neuausrichtung der europäischen Wirtschaft. Die Industrielobby spricht zwar von einem "wahnwitzigen Kostenschub", aber auch von einer großen Chance.

Es geht nicht nur um das Abwenden einer globalen Klimakatastrophe, sondern auch darum, die industrielle Produktion umweltfreundlich umzubauen und dadurch die eigene Wirtschaft zu stärken.

Der Plan sieht vor, den Einsatz fossiler Brennstoffe für Kraftwerke und Industriebetriebe zu verteuern - um mehr als das Dreifache, schätzen Experten. Für Schiffe und Flugzeuge sowie für das Beheizen von Wohnungen und den Straßenverkehr soll es CO2-Preise geben. Gleichzeitig soll massiv investiert werden, und auf dem ganzen Kontinent sollen Hunderte Wind- und Solarparks gebaut, Hunderttausende E-Ladesäulen errichtet, Wälder aufgeforstet und der industrielle Einsatz von Wasserstoff vorangetrieben werden.

Im Rennen um die karbonfreie Produktion der Zukunft liefert sich das EU-Programm einen grünen Wettlauf mit China und den Vereinigten Statten um einen gewaltigen Zukunftsmarkt. So plant US-Präsident Joe Biden, innerhalb von 16 Jahren alle Kohle- und Gaskraftwerke abzuschalten und ein grünes Investitionsprogramm aufzulegen, das Millionen gut bezahlte Industriejobs schaffen soll. Chinas Staatschef Xi Jinping will die Volksrepublik mit staatlich geförderten Innovationen und milliardenschweren Finanzhilfen zum Weltmarktführer bei grünen Zukunftsprodukten wie Elektroautos, Batteriezellen oder Stromnetzen machen. Das ist das gleiche Rezept, mit dem Peking Amerikaner und Europäer bei der Produktion von Solarmodulen abgehängt hat.

Viele der Green-Deal-Technologien sind bereits vorhanden, zeigt eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey: Um die notwendige Ökotransformation in den nächsten drei Jahrzehnten zu schaffen, kann Europa zu 60 Prozent auf bereits eingeführte Standardprodukte wie Elektroautos oder Wärmepumpen zurückgreifen. Ein Viertel der benötigten Technologien befindet sich bereits im Entwicklungsstadium, und nur 15 Prozent sind noch Gegenstand der Forschung.

Gleichzeitig rechne sich der Umbau zu einer CO2-neutralen Wirtschaft, wie die Forscher ermittelt haben. Zwar müssten die europäischen Staaten, Unternehmen und Privathaushalte bis 2050 rund 28 Billionen Euro in Solarparks, Niedrigenergiehäuser oder Stromspeicher investieren. Doch der Mehraufwand werde in den Folgejahren durch niedrigere Energie- und Betriebskosten nahezu vollständig ausgeglichen. "Netto-Null-Emissionen zu Netto-Null-Kosten sind möglich", heißt es in der Studie. Mit dem Emissionshandel für Strom und Industrie verfüge der Kontinent "über ein erprobtes Instrument, das die notwendigen Anreize setzt", erklärt McKinsey-Partner Stefan Helmcke. Überdies werde der Wandel vornehmlich Industriezweige erfassen, in denen Europa historisch stark sei. "Beim Klimawandel geht es weniger um Apps und Algorithmen", sagt der McKinsey-Mann, "als um Windräder, Stahlwerke, Zementfabriken."

Gleichzeig wird für den Umbau in Richtung einer karbonfreien Produktion der Zukunft vor allem Erdgas gebraucht. Denn Deutschland plant, sowohl aus Atomkraft als auch Kohle auszusteigen, und der Aufbau erneuerbarer Energien geht nicht schnell genug voran, um den Energiehunger zu stillen. Der Übergang, das zeigen alle großen Studien, lässt sich nur mit Gas bewältigen.

Gas sei, schreiben die Ampelkoalitionäre in ihrem Regierungsvertrag, "für eine Übergangszeit unverzichtbar". Allerdings entsteht bei der Verbrennung von Erdgas Kohlendioxid: nur halb so viel wie bei Braunkohle - aber immer noch viel zu viel, um die Erwärmung der Erde auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen.

Auf dem Weg in eine Zukunft ohne Treibhausgasemissionen wird der fossile Brennstoff aber für viele Wirtschaftsbereiche unverzichtbar sein. Gas wird sowohl für die Stromerzeugung als auch zum Heizen und für die Industrie gebraucht. Und zwar noch ziemlich lange.

Rund 55 Prozent der der in Deutschland erzeugten Elektrizität stammt aus Kern-, Kohle- und Erdgaskraftwerken. Dabei sollen auch die letzten drei verbliebenen AKW zum Jahreswechsel abschaltet werden und die Kohleverstromung laut Koalitionsvertrag "idealerweise" bis 2030 enden.

Dadurch würden innerhalb von neun Jahren fast 40 Prozent der Stromproduktion wegfallen. Und so schnell können die erneuerbaren Energien die Lücke nicht kompensieren. Selbst bei einem starken Zubau "dürfte die Bedeutung von Erdgas im Stromsektor in diesem Jahrzehnt weiter zunehmen", stellt Marc Oliver Bettzüge, Direktor des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität Köln, fest.

In knapp neun Jahren sollen schon vier Fünftel der gesamten Elektrizität aus regenerativen Quellen stammen. Das bedeutet, dass jede Woche laut dem Energieverband BDEW zwischen 25 und 38 Windkraftanlagen gebaut werden müssen. Und das bis 2030. Zuletzt lag das Wochenpensum gerade mal bei neun Windrädern.

Die staatliche Deutsche Energie-Agentur DENA hält einen Zubau von 15 Gigawatt Leistung für nötig; die Unternehmensberatung BCG in einer Studie für den Bundesverband der Deutschen Industrie fast die dreifache Menge.

Und solange ausgereifte Stromspeichersysteme fehlen, muss die Grundlast für die kontinuierliche Stromversorgung aus Anlagen kommen, die rund um die Uhr unabhängig von äußeren Bedingungen laufen können.

Gaskraftwerke sind hier ideal, weil sie bei akuten Bedarfsspitzen schnell hochgefahren werden können. Es muss allerdings genügend davon geben. Weshalb sich die Ampel im Koalitionsvertrag explizit für "die Errichtung moderner Gaskraftwerke" ausspricht, um den steigenden Strom- und Energiebedarf zu wettbewerbsfähigen Preisen zu decken. Diese Einschätzung teilen auch die Experten des Thinktanks Agora Energiewende. Die Berliner Denkfabrik prognostiziert einen Anstieg der bundesweiten Gasverstromung bis 2030 um mehr als 60 Prozent. Hierfür seien zusätzliche Gaskraftwerke mit einer installierten Leistung von 20 Gigawatt erforderlich.

Diese neuen Kraftwerke sollen anfangs mit Gas beliefert und später dann auf klimaneutralen Wasserstoff umgestellt werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.02.2022, Nr. 26, S. V1